Die Verhaltensrichtlinien
Reichen aber solche äußerst knapp gehaltenen Prinzipienkataloge aus, um allen Eventualitäten zu begegnen? Es ist wie bei anderen Moralkodizes auch: Sie müssen durch „Ausführungsbestimmungen“ ergänzt werden. Das widerfuhr dem Dekalog mit dem umfänglichen Deutero-nomion („Das ganze Gesetz, das ich dir heute gebe…“ 5.Mose 8,1). Und es widerfuhr den meisten der 16 Publizistischen Grundsätzen des deutschen Pressekodex mit nachträglich hinzugefügten Einzelrichtlinien.
Fortschreibung der Normen
Eine große und in ihrem Umfang wachsende Aufgabe des PR-Rats wie der anderen Räte ist es daher, die auf die öffentliche Kommunikation anzuwendenden Normen fortzuschreiben. Das betrifft nicht nur Hinzufügungen durch neue Verhaltensrichtlinien. Es betrifft ebenso die Streichung überholter Vorschriften, wie oben beschrieben.
… über Geschenke, Einladungen und Aufträge an Journalisten
Der deutsche PR-Rat erlässt einzelne Verhaltensrichtlinien wie der Presserat: so über den Umgang mit Journalisten bei Geschenken, Einladungen und PR-Aufträgen oder für die Handhabung von Garantieversprechen bei PR-Agenturangeboten oder für die Handhabung von Erfolgshonoraren. Der Fall Hunzinger führte zu einer neuen Verhaltensrichtlinie für Lobbyisten und Politikberater (alle Texte unter www.drpr-online.de / Ratsrichtlinien“). Solche Richtlinien haben die gleiche bindende Kraft wie Kodextexte. Sie sind allerdings sehr viel detailreicher, denn hierbei geht es um praktische Handreichungen für die unterschiedlichsten Gegebenheiten.
Was aber soll geschehen, wenn es für ein Fehlverhalten keine Bestimmungen gibt? Im Ratsfall Moritz Hunzinger zum Beispiel konnte keine Regel herangezogen werden, gegen die er mit seiner Handlungsweise verstoßen hatte. Prima vista war nicht einzusehen, warum er dem Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir keinen Kredit geben durfte.
Sitte und Anstand als Urteilskriterien?
War es zulässig, dass der PR-Rat hier Neuland betrat? Man kennt einerseits das Prinzip, dass es keine Strafe ohne Gesetz geben darf und müsste demzufolge die Frage verneinen. Andererseits sind die Rügen der Räte recht häufig von den Unwägbarkeiten bestimmt, die „Sitte und Anstand“ gebieten. Der Deutsche Werberat beruft sich bisweilen auf solche Kriterien. Unter den „vier zentralen Maßstäben“ für seine Entscheidungen nennt er ausdrücklich auch die „aktuell herrschende Auffassung über Sitte, Anstand und Moral in der Gesellschaft“. Dazu zählt er „nicht nur die Verhaltensweisen der Bürger im öffentlichen Leben, sondern auch die dargestellte Wirklichkeit in den redaktionellen Teilen der Medien.“ (Deutscher Werberat 2003: 64).
Aber Sitte und Anstand sind mitunter recht lausige Kriterien. Mit ihnen wird manchem aktuellen Bürgerunmut, mancher Schelte von Wettbewerbern und etlicher Pressehatz Tür und Tor geöffnet. Der Erwartungsdruck der öffentlichen und vornehmlich der veröffentlichten Meinung nimmt dann beträchtlich zu. Der Werberat hat dies bei seinem Verdikt gegen die Benettonwerbung erfahren, das den Erwartungen der Werber entsprach. Vor dem Bundesverfassungsgericht blitzte er jedoch mit seiner Auffassung über Sitte, Anstand und Moral in der Gesellschaft ab, mochte diese aktuell noch so vorherrschend gewesen sein. Die Richter erachteten die Freiheit der Meinungsäußerung eines mit aufwühlenden Bildern agierenden Unternehmens als ein höheres Gut. (Avenarius 1991: 39)